Phantastische Kurzgeschichten zu Weihnachten

Stille Nacht, höllische Nacht

Ich träume von einer weißen Weihnacht, doch der Aggregatzustand der Welt ist grau. Es ist der 24. Dezember, und überall ist Wasser. Wir haben die Städte aufgegeben. Keine Tannenspitze ragt mehr aus der See, nur schroffe Inseln, die einmal Berge waren. Die Welt ist wüst und leer wie am Anfang aller Zeiten, ein Friedhof der Gipfelkreuze, die hie und da aus den Fluten emporstechen, rostende Denkmäler unserer Hybris. Die Glocken schweigen tief unten am Grund. Stille Nacht, höllische Nacht… Ich schließe die Augen und lausche dem Weihnachtsgeflüster der Wellen, das von einer Ewigkeit ohne uns erzählt. Ich bete ein Vaterunser: Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf der See. Es gibt kein Brot mehr, und auch keinen Wein. Vergib uns unsere Schuld.

Frisch erschienen im aktuellen Band 67 der Phantastischen Miniaturenreihe der Bibliothek Wetzlar (der Band kann dort per Email-Order bestellt werden!)